20. Dezember

„tütelü .. vertraue deinem Instinkt ...

ta ta ... du bist gut, so wie du bist ...

tütelüt ...  wo kannst du deine Gabe einsetzen ...

tü tü ... wem kannst du damit helfen ...“

 

Wilhelm schreckt aus dem Schlaf hoch. Die Sonne scheint von ihrem höchsten Punkt auf ihn herunter. Er blinzelt. Wo ist er? Wo ist die bunte Kuh? Er steht auf und schaut sich um. Hinter ihm die knorrige Eiche. Links vor ihm der Teich. Geradeaus Berg Nummer zwei. „Bruno? Ferdinand?“ War etwa alles nur ein Traum? Zögerlich ruft er: „Bunte Kuh?“

Keine Antwort. Niemand ist zu sehen. Nichts ist zu hören. Wilhelm läuft um die Eiche, stolpert über eine Wurzel. Panik steigt in ihm auf.

„Atmen, Wilhelm, du musst atmen“, versucht er, sich selbst zu beruhigen. Einatmen: „Ahhhh.“ Ausatmen: „Ihhhh.“ Ein: „Ahhhh.“ Aus: „Ihhhh.“ Ein: „Ahhhh.“ Aus: „Ihhhh.“

Wasser, das hilft bestimmt. Er setzt jeden Huf sorgfältig einen Schritt vorwärts Richtung Teich.

 

„He, du Schlafmütze. Wir dachten schon, du wachst gar nicht mehr auf.“

Wilhelm zuckt zusammen, schaut sich um, vergisst, welchen Huf er gerade nach vorne setzen wollte, nimmt statt des linken den rechen Hinterhuf, stößt damit gegen seinen rechten Vorderhuf und gerät ins Taumeln. Am Ufer des Teiches nur eine Huflänge von der Wasserlinie entfernt kommt er zum Stehen. Puh! Das war knapp. Nasse Hufe hätte er jetzt nicht gebrauchen können.

Ferdinand hoppelt zu ihm herüber, springt auf Wilhelms Rücken und macht es sich in seinem zotteligen Fell gemütlich. In den letzten Tagen ist schon ein richtiges Nest entstanden.

„Na, können wir endlich weiter?“

„Was? ... Wie? ... Wohin?“

„Ach Wilhelm, du schläfst ja immer noch!“

„Nun lass ihn doch erst mal wach werden, Ferdi.“

„Aber Bruno, du hast doch vorhin selbst gesagt, dass wir uns beeilen müssen, wenn wir in vier Tagen unsere Zirkusaufführung haben. Die Manege muss gebaut werden und wir müssen die Kunststücke einstudieren.“

„Ja, alles richtig, aber trotzdem muss Wilhelm erst wach werden. Das war schließlich eine anstrengende Nacht für ihn.“

„Dann war die bunte Kuh tatsächlich hier? Ich habe nicht geträumt?“

„Nein. Sie war hier und ihr habt die ganze Nacht gesprochen.“

Wilhelm nickt. So langsam kommt die Erinnerung zurück.

Bruno und Ferdinand hatten sich diskret zurückgezogen. Wilhelm und die bunte Kuh setzten sich unter die knorrige Eiche. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Wie schön und leicht seine Kindheit war. Behütet von seiner Mama in einer kleinen Eselherde hoch in den kargen Bergen im Südwesten.

Dann die erste Panikattacke auf dem Weg zur Eselschule, als er auf einen Wolf traf. Niemand war da, um zu helfen. Seine Freunde lachten ihn später aus, weil er nicht mehr allein runter ins Tal wollte. Noch schlimmer wurde es, als er nach der fünften Panikattacke nur noch „A-Ih“ statt „I-Ah“ sagte.

Später die Hoffnung, von seinem Leid erlöst zu werden. Ein entfernter Verwandter berichtete von der bunten Kuh. Sie sollte einfach jedem helfen können – egal bei welchem Problem. Doch seine Suche sollte zwanzig Jahre dauern – gespickt mit unzähligen weiteren Panikattacken.

Und die bunte Kuh? Sie hörte einfach nur zu. An den richtigen Stellen ein Nicken, Ah oder Oh. Ein kurzes Nachfragen, wenn Wilhelm zu lange seinen Gedanken nachging. Immer aufrichtig und interessiert.

Aber hat sie ihm auch einen Rat gegeben? Ihm auf irgendeine seiner Fragen eine Antwort gegeben? Wilhelm kann sich partout nicht erinnern. Nur an ein sanftes „tütelü“ im Hintergrund. Irgendwann muss Wilhelm dann eingeschlafen sein.

Und die bunte Kuh? Fort ist sie. Genauso schnell, wie sie aufgetaucht ist. Trotzdem fühlt sich Wilhelm irgendwie besser, freier, leichter. Als wäre eine große Last von seinen Schultern gefallen. Und das obwohl sich Ferdinand auf seinem Rücken eingenistet hat.

 

„Ist alles in Ordnung, Wilhelm?“

„Was?“ Bruno reißt ihn aus seinen Erinnerungen. „Äh, ja. Alles in Ordnung.“ Wilhelm schüttelt sich kurz, um ins Hier und Jetzt zurückzukommen. „Lasst uns weiterziehen. Wir haben schließlich noch etwas vor.“